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AutorenbildSusann Seifert

SOMMER, SONNE, RAMELOW

Aktualisiert: 19. Aug.

Kein Tag vergeht, an dem die Jungs und Mädels von der Tuningschmiede Rositz (Instagram: tuningschmiede_rositz) nicht auf ihrem Moped sitzen – es ermöglicht ihnen Freiheit, Gemeinschaft und Selbstbestimmtheit.


Knatternde Anziehungskraft: Wenn die Simson losknattert, gibt es für Zweirad-Enthusiasten kein Halten mehr.


Rund 60 weitere Jugendliche teilen diese Leidenschaft in der dorfübergreifenden Mopedgruppe. Schrauben, reparieren, tunen, aufmotzen oder kompletter Neuaufbau: Alles ist möglich. Mit gegenseitiger Hilfe und den eigenen Händen. Collins Garage, die auch sowas wie die Schaltzentrale der Truppe ist, bietet ihnen alles, was das Schrauberherz begehrt. Und wenn einer Bescheid weiß, dann Collin!“ konstatiert Ben, einer der Schrauber. Die Garage liegt in einer Seitenstraße im Rositzer Ortsteil Gorma. Collin hat Glück gehabt:


„Alle Garagen in Rositz sind vergeben und daher sehr begehrt. Es gibt sogar Wartelisten“, erzählt er.

Treffpunkt Nummer eins. Garagen ersetzten Sportstudio und Jugendclub.


Garagen sind mehr als nur Abstellplätze für Autos und Werkzeuge – sie sind soziale Treffpunkte und wahre Schatzkisten. In den Garagen des Altenburger Landes wird nicht nur geschraubt, sondern auch gegrillt und gequatscht. Diese Orte bieten Jugendlichen, denen es oft an Freizeitangeboten mangelt, Raum für Gemeinschaft und Zusammenhalt. Hier hilft man sich gegenseitig – sei es bei der Mopedreparatur oder beim Training im Garagen-Gym. Der Jugendclub in Rositz, der zwei Stunden die Woche geöffnet hat, bietet das nicht. Garagen sind deshalb wichtige Alltagsorte, die in Zeiten fehlender Angebote im ländlichen Raum eine Möglichkeit bieten, Gemeinschaft zu erleben und zu pflegen.


Für Ben geht es heute auf seiner Simson S 51 erst ins neun Kilometer entfernte Fitnessstudio, dann in den 16 Kilometer entfernten Jugendclub Dobitschen, wo er auf andere Zweiradbegeisterte trifft. Gemütliches Beisammensein, ein wenig Fachsimpeln, die letzte Ausfahrt auswerten. Seine Begeisterung für dieses Kultobjekt ist seit seinem 14. Lebensjahr ungebrochen. Vermacht bekam er sein erstes Gefährt von seinem großen Bruder, es stand dann als erste große Liebe im Schuppen – bis er endlich mit 15 Jahren und bestandener Fahrprüfung durchs Altenburger Land rollen konnte.


Das Moped ist für die Mobilität der Jugendlichen im ländlichen Raum essenziell. In Städten sorgen öffentliche Verkehrsmittel für Unabhängigkeit, auf dem Land ist ein eigenes Fortbewegungsmittel oft unverzichtbar. Ein Moped bietet Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, erweitert den Aktionsradius erheblich. Freizeitaktivitäten, die sonst schwer erreichbar wären, liegen plötzlich im Bereich des Möglichen. Diese Mobilität ist entscheidend für die Lebensqualität junger Menschen auf dem Land.


Traum in rot, blau und gelb. Der ganze Stolz der Jugendlichen.


Das hat übrigens auch die große Politik erkannt: Am 21. Juni 2024 steht großer Besuch bevor: Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow kommt im Rahmen seiner Sommertour „Thüringen, wo dein Herz klopft“ Collins Garage besuchen. Collin und Ben machen die Garage klar, während die anderen Jugendlichen eintrudeln. Eine Stunde vorm Eintreffen des Ministerpäsidenten checken Beamte des Landeskriminalamts die Lage. Die diensthabenden Polizisten des Ortes lassen ebenfalls nicht lange auf sich warten: „Von den Mopeds hier können zwei mitfahren.“, stellt einer der Polizisten fest: „Alle anderen entsprechen nicht der Straßenverkehrsordnung.“ „Die Veranstaltung hätte angemeldet werden müssen,“ ergänzt seine Kollegin: „Ab drei Mopeds spricht man von einer Kolonne. Das ist anmeldepflichtig.“ Die Jungs, genervt, lassen die Belehrungen über sich ergehen. Soviel zur jugendlichen Freiheit … Unterdessen fährt Bodo Ramelow vor. Ben empfängt den Ministerpräsidenten, der zielgerichtet auf das Simson-DUO und die weiteren Mopeds zusteuert. Eine „Spezi“ in der Hand, fachsimpelt er mit Ben, vertieft das Gespräch mit Collin in der Garage.



Dann geht’s los, die Motoren starten. Ramelow fährt im DUO mit, führt standesgemäß die Kolonne an. Am Goetheplatz in Rositz sammeln sie rund 50 weitere Mopeds ein. Insgesamt brummen rund 75 Zwei- und Mehrräder zum Haselbacher See. Unterwegs zieht die Polizei ein paar Gefährte aus dem Verkehr. Da brennen die Jugendlichen mal wirklich für eine Sache …


Ordnung muss sein. Am Haselbacher See nimmt die Polizei einige Gefährte genauer unter die Lupe.


Immerhin bekommen sie später noch Lob von Bodo Ramelow:


„Früher, in meiner Jugend, bin ich auch Moped gefahren, später ein 750er Motorrad. Die Moped-Marken von damals gibt es heute kaum noch. Nur die Simson fahren heute noch in größerer Zahl. Sie sind für Euch ein Stück Freiheit und fester Teil Eurer Freizeit. Dazu meinen herzlichen Glückwunsch und meine Anerkennung. Ihr haltet damit ein Stück Thüringer Wirtschafts- und Kulturgeschichte aufrecht!“




Die vielen Leben der Simson


Die knatternde Simson hat eine turbulente Firmengeschichte hinter sich. Gegründet 1856 von den Brüdern Löb und Moses Simson in Suhl als Waffenfabrik, produzierte das Unternehmen Gewehre und Munition und war im Deutschen Kaiserreich ein bedeutender Lieferant für das Militär. Nach dem Ersten Weltkrieg begann Simson, Autos, Fahrräder und Motorräder zu bauen. Die Motorradproduktion war sehr erfolgreich, und Modelle wie die „Simson-Supra“ wurden populär.


Wechselnde politische und wirtschaftliche Systeme, mehrfach wechselnde Eigentümer und Verflechtungen von Fertigungszweigen und Standorten prägten die Geschichte. Immer wieder standen die Zweitakter im Schlaglicht der großen Geschichte:

-       erst ein Rüstungsvertrag mit der Reichswehr in den 1920ern,

-       dann die Enteignung durch die NSDAP 1935/36,

-       später die Überführung in eine sowjetische Aktiengesellschaft 1945 und Zusammenlegung mit dem Thälmann-Werk 1969. Die Familie Simson, eine jüdische Kaufmannsfamilie, konnte sich bis 1935 am Markt behaupten, bis sie entschädigungslos enteignet wurde und in die USA flüchtete.


Die VEB Fahrzeug- und Gerätewerk Simson Suhl wurde zu einem wichtigen Hersteller von Zweirädern in der DDR. Besonders bekannt wurde die Baureihe „Simson Schwalbe“, die in den 1960ern auf den Markt kam und zum Symbol des ostdeutschen Straßenbildes wurde. Sie schaffte es sogar ins Fernsehen, als der „Sandmann“ mit einer „Schwalbe“ durchs Bild fuhr. Auch die populäre „Schwester Agnes“ eilte mit ihrer Schwalbe ihren Patienten zu Hilfe.

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurde Simson im Auftrag der Treuhand privatisiert, wobei die Erben der Familie Simson keinen Zuschlag erhielten. Die Produktion wurde unter wechselnden Eigentümern unter dem Namen Simson fortgesetzt. Letztendlich konnte das Unternehmen aber den wirtschaftlichen Herausforderungen nicht standhalten und wurde 2003 aufgelöst.


Der Name Simson bleibt trotzdem ein Symbol für Qualität und Innovation im Zweiradbau. Heute haben viele Modelle Kulturstatus und werden mit Begeisterung gehegt, gepflegt und gefahren. So auch im Altenburger Land.





Nicht täuschen lassen: Die Schwalbe aus dem Jahr 1969 ist unter dem Rost gepflegt wie ein neuer Roller. Und natürlich hundertmal cooler.

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