top of page
Jessica Paeschke

Brief an die Kindheit

Liebe Kindheit,


du weißt gar nicht, wie sich seit deiner Zeit mein Leben verändert hat. Nicht nur, dass ich mehrfach umgezogen bin, die Technik hat sich dermaßen weiterentwickelt, das glaubst du nicht!


Ich hab doch früher viel Tagebuch geschrieben, heute macht man das in Blogs – alles digital und ohne Handschrift. Schon verrückt. Erinnerst du dich noch, wie es war, als ich mit meinen Freunden spielen wollte? Wenn einer in meinem Carreé gewohnt hat, haben wir durch Lichtsignale von einer zur anderen Wohnung gegenüber getestet, ob der andere da ist. Dann sind wir runter auf den Spielplatz oder zu unserem Versteck gegangen. Wenn einer unweit wohnte, bin ich klingeln gegangen, hoch zur Wohnungstür – eine Sprechanlage gab es noch nicht so verbreitet – und musste hoffen, dass mein Freund oder meine Freundin da war.


Ich hatte auch viele Freunde, die schon weiter weg wohnten. Wenn meine Mama es erlaubte, nahm ich mein Fahrrad und fuhr los. Das konnte dann schon mal 15 Minuten dauern, bis ich ankam. Blöd war nur, wenn wirklich keiner da war oder mir zu spät einfiel, dass ja heute Training oder Christenlehre* war. Aber an Bewegung mangelte es zumindest nicht. Das ist heute ganz anders. Bevor sich jemand treffen möchte, tippst du schnell ins Smartphone (das ist das Wählscheibentelefon von damals – du weißt doch, das was neben der Kammer in Schrank stand) und kriegst prompt eine Rückmeldung, ob der andere kann oder nicht. Aber hier können auch ganz schöne Zornesfalten entstehen, wenn du siehst, dass deine Nachricht angekommen ist (dann siehst du zwei blaue Häkchen), aber die Antwort kommt nicht.


Ach wie brodelt es da in den Menschen. Unfassbar, wie sehr das wichtig geworden ist. Alles ist schnelllebig und voller Hektik. Die Ruhe, die ich damals hatte und die viele Bewegung – heute kaum vorstellbar. Musste ich als 11-Jährige ins Krankenhaus, weil ich beim Skateboarden zwischen Bordsteinkante und Beet hängengeblieben bin, müssen die Kinder heute eher zum Arzt, weil der Daumen durchs Tippen oder Wischen die Sehnen falsch gedehnt sind oder der Nacken schmerzt, weil der Kopf zu lange nach unten schaut.


Daran sehe ich, liebe Kindheit, dass ich alt werde. Du weißt ja auch, dass ich schon immer eine Fernseheule bin, aber was heute Fernsehschauen ist, hätte ich als Kind nie gedacht. Du schaust meist allein, nicht als Familienerlebnis. Jeder hat ein Empfangsgerät – sprich ein Smartphone, Laptop, Tablet oder PC – und streamt sich Sendungen aus aller Welt. Aber glaubst du, dass solch schönen Sendungen wie Georgie, die kleine Prinzessin Sara, die Kickers oder Mila Superstar zu sehen sind? Nein, irgendwie ist alles schräg: Animé , Science Fiction, unrealistische Zeichnungen, Krach-Boom-Bang.


Mir hat das Programm damals gereicht, die Auswahl heute überfordert mich. Gerne würde ich mich in deine Zeit zurückbeamen und die Ruhe und Entspanntheit des Kindseins von früher genießen. Doch das geht nicht. Umso fröhlicher bin ich, dass ich diese Zeit erleben durfte. Ich hoffe, meine Kinder eignen sich einiges davon an (Kassettenrekorder kennen sie zumindest noch ), aber folgen auch den heutigen Gegebenheiten, so wie sie es für richtig halten. Dann werden auch sie in vielen Jahren wie ich hier an ihre Kindheit schreiben. Und sich daran erfreuen.


Ich danke dir, dass du mich durch dich geführt hast. Du bleibst mir in toller Erinnerung!


Deine Jessica

 

Das weiß auch kaum noch einer, was das war: In der DDR wurde die christliche Unterweisung Ende der fünfziger Jahre in den staatlichen Schulen verboten, man zog sich damit – notgedrungen – in die Räume der Kirchengemeinden zurück. Hier fand die Christenlehre statt und wurde von vielen Eltern dankbar angenommen, als Alternative zum staatlichen Angebot zur Erziehung.


42 Ansichten0 Kommentare

Comentários


bottom of page